Schlafraum mit einer Reihe von Matratzen, unterschiedlich bezogen

Einer der beiden Schlafräume der Berner Fuwo-WG, in dem mehrere Menschen schlafen.

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Die Bewohner teilen sich das Schlafzimmer, private Räume gibt es nicht. So lebte man einst in der Schweiz, aus Not. Heute machen es junge Leute wieder, aus voller Überzeugung. Und für diese nehmen sie auch Nachteile in Kauf. Ein Ortstermin.

Früher lebte eine wohlhabende Familie in der Villa unweit des Stadtzentrums von Bern. Heute bietet der Backsteinbau mehr Menschen ein Zuhause. Möglich ist das, weil die Bewohner freiwillig auf etwas verzichten, was in der Schweiz absolute Normalität ist: das eigene Zimmer. Acht der neun Bewohnerinnen und Bewohner in der Berner WG leben funktional, und sie tun das gerne.

Funktionale Möbel sind praktische Möbel; funktionales Wohnen ist nicht unbedingt praktisch: Beim "FuWo", wie man es in der Kurzform nennt, wird jedes Zimmer entsprechend seiner Funktion genutzt. In der Küche kocht man und im Bad badet man. Aber in Fuwo-WGs wird eben auch das Schlafzimmer nur zum Schlafen gebraucht.

Die Assoziation an ein Ferienlager ist präsent, als Lorena, Johannes und Adrien swissinfo.ch zu den beiden Schlafräumen führen: Matratze an Matratze – kuschlige Massenschläge, in denen laut den Dreien nachts "ein Gefühl von Herdenwärme" spürbar wird. Manchmal teilen sich auch Pärchen eine Matratze im Schlafzimmer, wenn der Partner oder die Partnerin zu Besuch ist – oder man trägt sich eine Nacht lang für einen der Rückzugsräume ein.

Besonders in Wohngemeinschaften sind Schlafzimmer die Räume, in die man sich zurückziehen kann: Wenn man Ruhe vor den Mitbewohnern will, schliesst man die Zimmertür. Hinter ihr ist man nur sich selbst Rechenschaft schuldig bezüglich Ordnung und Unordnung. Man bestimmt, ob und welche Poster an den Wänden hängen und ist sicher vor kritischen Blicken, wenn man einen Sonntag mit Filmen oder Serien verbringt.

Diesen Komfort haben Lorena, Johannes und Adrien nicht, seit sie in der Fuwo-WG leben. Zudem: Wenn nachts eine Person schnarcht, ist das ein Gruppenthema. Das Schnarchen raubt allen den Schlaf.

"Mein Privatraum ist das Kästchen im Gang", witzelt Lorena. Nachhause kommen und Jacke und Tasche im Zimmer auf den Boden werfen? Geht nicht. Trotzdem gibt es Rückzugsräume, einen im Keller und zwei in den oberen Stockwerken. Für diese kann man sich eintragen, wenn man Zeit für sich braucht. Diese Räume verlässt man aber auch, wie man sie vorgefunden hat.

Drei jungen Menschen in einer WG

Drei der neun Bewohnerinnen und Bewohner der Berner Fuwo-WG: Adrien, Johannes, Lorena (von links nach rechts).

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Früher die Norm

"Heute ist unsere Wohnform ein Ausnahmefall", sagt Adrien, "aber vor 50 Jahren war sie völlig üblich." Johannes ergänzt, sein Vater sei auch funktional aufgewachsen. Man habe das damals einfach nicht so genannt. Was ist denn der Grund, dass Johannes freiwillig so lebt, wie es sein Vater musste?

Es gibt pragmatische Gründe: Mehr Leute können hier wohnen. Das bedeutet nicht nur eine grössere Gemeinschaft, sondern auch tiefere Mieten für die einzelnen. Die FuWo-Villa entscheidet im Dialog über die Höhe der Miete: Alle schreiben auf einen Zettel, wieviel sie oder er geben möchte. Reicht es nach der ersten Runde nicht für die gesamte Miete, findet man im Gespräch eine Lösung. Der einzige, der ein eigenes Zimmer hat, zahlt freiwillig am meisten.

Sorgfältig ausgesuchte Mitglieder

Dialog präge die Neuner-WG: Gemeinschaft ist ihnen wichtig. Darum überwiegen auch nicht die pragmatischen Gründe, sondern der empfundene Zusammenhalt. Noch nie haben sie sich ihren Mitbewohnenden so verbunden gefühlt, betonen alle drei im Gespräch. "Ich glaube, es gibt nicht nur Alterseinsamkeit – die gesellschaftliche Atomisierung führt dazu, dass wahnsinnig viele Menschen in unserem jüngeren Alter sehr allein sind", sagt Adrien.

Möglicherweise der detaillierteste WG-Plan von Bern.

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Zeit und Energie müsse man investieren, wenn man funktional wohnt, auch für die pragmatischen Aspekte des Zusammenlebens. Das fängt bei der Mitbewohnersuche an, denn die ernsthaft Interessierten werden erstmal zum Testwohnen eingeladen. Es geht weiter bei der Organisation von Hausarbeit und den Vorräten. Ein Ämtchenplan sei umso wichtiger, wenn alle sämtliche Räume gleichermassen beanspruchen, betonen die drei.

Lorena sagt, sie habe früher Vorurteile gehabt: Funktionales Wohnen klang für sie nach "Schmuddelhippie-WG". Viele in der Berner WG legen Wert auf Ordnung und Sauberkeit. So sind etwa herumstehende Kaffeetassen mal zum Zankapfel geworden.

Aber wenn man sich an etwas stört, gehe es häufig in erster Linie darum, sich gehört zu fühlen. Wie in jeder WG: "Man muss ansprechen, was einem stört", sagt sie. Wenn man merkt, dass Probleme und Bedürfnisse ernst genommen werden, lösen sich diese zum Teil von selbst auf. Ohne dass sich zwingend etwas ändern muss.

Miteinander statt nebeneinander leben

Schon das Whiteboard im Eingangsbereich zeigt, wie gut diese WG organisiert ist: Fast 100 Produkte, von Aprikosen bis Natron, sind dort gelistet. Wo Nachschub gebraucht wird, markiert das ein Kreuz. Die Gewürzpackungen in der Küche haben Pfadfinderlager-Format, aber sind klein im Vergleich zu den Vorratssäcken und -fässern im Keller.

So edel kann eine Computernische sein.

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Im Durchgangszimmer vor dem Vorratsraum hat sich Adrien, der das Dekorieren und Umstellen eines eigenen Zimmers am meisten vermisst, eine Malwand eingerichtet. Das Rückzugszimmer im Keller ist ohne Fenster. Gut für einen ruhigen Abend, aber dauerhaft möchte wohl niemand hier unten leben.

In Zweck-WGs ist es möglich, aneinander vorbeizuleben. In WGs, in denen sich die Mitbewohner nahestehen, kann man sich in immer in sein Zimmer zurückziehen, wenn man Ruhe braucht. Darauf verzichten Lorena, Johannes und Adrien. Das falle nicht immer gleich leicht, findet Adrien: "Wenn ich viel zu tun habe, bei Stress-Peaks, wäre ich manchmal froh um ein eigenes Zimmer."

Adrien fügt sogleich an, dass komplette Harmonie ohnehin unmöglich sei: "Konflikte sind normal. Eine Person hat das Bedürfnis, früher zu schlafen als andere. Wie findet man einen Kompromiss zwischen diesen Bedürfnissen?"

"Da geht es viel um Rücksichtnahme", sagt Lorena und erinnert nochmals an die Kaffeetassen. "Genau: Rücksichtnahme. Um Toleranz geht es nämlich nicht. Toleranz bedeutet für mich, was auszuhalten, das man als anstrengend wahrnimmt", wieder Adrien. "Es geht darum, offen zu sein und zuzuhören: Was brauchst du? Was brauche ich?"

Wenn der Privatraum aus einem Kästchen besteht und man nachts im selben Zimmer nebeneinander liegt, gewöhne man sich an vieles. FuWo helfe auch, den inneren Schweinehund zu überwinden, sagt Johannes: "Nachhaltig zu leben, fällt mir leichter seit ich hier wohne."

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